Das Haus auf dem Berge
» Ein Traum: Ich befinde mich in einem sehr düsteren Haus. Riesige Säle, die Wände kann ich nicht erkennen; sind es Säle oder ist es der Wald? Um meine Angst zu überwinden, esse ich große Stücke Brot. Doch dieses düstere Haus ohne Wände, dieser offene Palast befindet sich auf einem Gipfel. Ich will hinabsteigen. Schwarz gekleidete Leute erwarten mich im Tal, wo ein Dorf liegt. Ich steige hinunter. Bevor ich noch unten angelangt bin, sehe ich diese Leute und die niedrigen, halb in die Erde vergrabenen kleinen Häuser. Da steige ich wieder hinauf. Ich fühle mich nirgends wohl. Hier oder da, überall Gefahr. Mir scheint, es sind verschiedenartige Gefahren. Ich kann sie nicht definieren. Unten die Gefahr ist anders als die oben, und doch ist es gewiss … « Eugène Ionesco: Tagebuch. Journal en miettes. Luchterhand, Neuwied – Berlin 1969, S.55.
Der Zeichner lässt sich auf die vertrackte Linie ein. Punktum, da beißt die Maus keinen Faden ab. » Linien, Kreise, Figuren – da steckts. Wer das lesen könnte! «, – wie Georg Büchners Woyzeck sagt. Sie bilden das Terrain für eine amoure d’horizon, die mit ihren Fallstricken süchtig macht. Frank Diersch ist einer der seltenen Narren im Armenhaus der zeichnenden Künste, das voll der Reichtümer in der Phantasie steckt. Ein Pfadfinder, der am brüchigen Saum seiner verschrobenen Linien auf eigenem Wege der Erkenntnis wandelt, nach irgendwohin, scheinbar nirgendwohin. Die Ablagerungen des Erlebten werden listig und unbefangen miteinander verkuppelt. Eine Archäologie des Nichtvergessens, die mit ihren abgründigen „Einfällen“ Erinnerung an das Versunkene herauf beschwört. In den Zeichnungen von Frank Diersch bewegt sich » alles auf einer Reise in meinen eigenen Kontinent « zu. Auf diesem Parcours sieht er die alltägliche, doch banale Welt in ihrer unbehaglichen Fremdheit, aber auch das Arkadien an lichteren Horizonten. » Für manche ist es leicht zu leben, sie brauchen sich nur treiben zu lassen. Sie gleiten. Ich, ich muss immer Berge erklimmen, die ich übrigens nie erklimme.« Frank Diersch teilt diese » Ich « – Wanderung des Zweifels mit dem Schriftsteller Eugène Ionesco, die er in seinem Journal en miettes reflektierte. Spannungsbögen zwischen Tagbewusstsein und Nachttraum, die das Schaffen von Dichter und Zeichner kräftig am Zaum des Lebens halten.
Die Zeichnungen von Frank Diersch sind so auch Tagebuchblätter, die jedoch die flüchtige Stunde vergessen machen. In den Stapeln brüchiger, vergilbter Papiere findet sich mit dem >Haus< das zentrale Motiv als auch der Schlüssel zum Tor seiner Kunst. Am Anfang steht das moderne >Nichthaus< der Eltern am lichten Berg, dessen Leere und Nüchternheit der Junge entfloh. Ein prägendes Kindheitsmuster mit Folgen. Ihn zieht es auf das sagenumwobene Schiff Museumsinsel am Kupfergraben in der Mitte Berlins. Im Durchwandern dunkler Gemächer wurde das Geheimnis des Unbekannten entdeckt. Der Verfall der grauen Gemäuer am Prenzlauer Berg hat ihn nicht festhalten können. Ihn trieb es vom morbiden Koloss der Stadt hinab in das Kryptische der entlegenen Wunderkammern, deren Schätze im Verborgenen dämmern. Früh schon fällt die Entscheidung für das Unheimliche im Realen, das als Verwunderung am Wirklichen empfunden und gestaltet wird. Diersch erfindet nicht, er holt sich seine Phantasien aus dem Realen, der Literatur und Musik, aus der Stille seiner ruhelosen Gesichte: >>Innerer Furor, der meine Seele peitschte. << Da steht mit dem Haus am Wasser Poelzigs Zirkuspalast an der Spree, wo die Panke gurgelt. Der gigantische Kasten im Abriss, unkenntlich gemacht mit seinem saugendenSchlund in die Unterwelt. Eines der Gebäude, wo die Träume vom Vergangenen spuken, unterm Dach das Bewusste nistet und in den Kellern das Unbewusste des Daseins geistert. Seit Jahrhunderten gilt das Haus als Metapher für den Menschen mit seinen vielen Kammern des seelischen Innenlebens. In diesem Traumgebäude findet die menschliche Gestalt selbst keinen dauernden Platz mehr. Die Figuren sind auf anonyme Nebenschauplätze verbannt, der einsame Wanderer und die verlassenen Männer am Ufer. Vom Haus am Wasser fällt der Blick hinüber an das Andere Ufer, zum heiteren Arkadien mit seiner noch unzerstörten, wie von selbst weiter wachsenden Natur. Der Traum von einer immer jugendlich strahlenden Welt.
Im Lauf der Jahre ist das Haus dem Zeichner Diersch zum Archetypus für ein Ziel geworden, das zum Greifen nahe scheint, doch in unerreichbarer Ferne siedelt. Den Berg hat er nicht wirklich erklommen, die sehnsüchtige Wanderung findet nicht wie bei den Romantikern in Harmonie mit der Idylle der Natur statt. Die Aura des konkreten Ortes bedeutet ihm wenig, sie erscheint in den Zeichnungen nur noch als schemenhafte Erinnerung an das einstmals Geschaute. An Stelle der Topographie figuriert die phantasievolle Imagination, die beflügelt, aber auch schmerzhafte Wunden hinterlässt. Diese Gebäude hoch auf dem Berge sind der Vorstellung entwachsen, verlorene und wieder gefundene Situationen, dem Born des Vergessens entrissen. Landschaft tut sich auf, in der sich die Hausträume verlieren. Die Wege führen den Spurensucher kreuz und quer durch sein Land Phantasia. Die terra incognita wird mit kratzender Feder und geschärftem Stift erforscht und durchmessen. Ein ernstes Spiel im Feld mit seinen Weggabelungen und Sackgassen. Beim Aufstieg ist manches Hindernis zu nehmen: Barrieren – Gitter – Zäune. Stolpersteine für den Zeichner wie für die Drei Wanderer, denen er unterwegs begegnet. Fehlt nur noch der Gevatter Tod als Begleiter. Hier und da Bruchstücke zerstörter Architektur. Eine Natur, die ohne menschliches Zutun wuchert. Zonen der Ballung von ruppiger Form treffen auf Partien der Leere, die den geschundenen Leib der Landschaft entspannen. Wasser sickert ein als schöpferisches Element. Auf dem Terrain werden mit der Feder in Karmin und Schwarz muntere Haken und Kapriolen geschlagen, Schneisen für des müden Wanderers Fuß. Mitten im Geschiebe der Formen der Biss wölfischer Zähne als Aggression. In seinen verschachtelten Bergstädten gibt der Bergsteiger F.D. die rhythmisierte Bewegung im Drang nach oben, die Ruhe meidend. Das eine ist mit dem anderen verhakt, doch nicht auf alle Ewigkeit, die am längsten währt.
Aus der Ferne grüßt hoch oben Breughels Turmbau zu Babel, der auch Perle, die Höllenstadt in Alfred Kubins Traumreich Die andere Seite mit seinen Abgründen durchschimmern lässt. Vor dem Gipfel streckt sich der heilige Bezirk, mit dem pro fano, dem Weltlichen davor. Auf der Bergkuppe thronen wehrhaft die Burg, das verschlossene Schloss, aber auch der Elfenbeinturm der Verschwiegenheit. Daneben das ruinöse Haus als Einsiedelei, auch hier oben brütet, vom Sturme umweht, der grüblerische Hieronymus im Gehäuse. Stätten des Schutzes und der Geborgenheit fernab vom Lärm der Zeit. Aber es lockt auch der schwarze Eingang, der nichts Gutes verheißt und wo die Gefahren mit ihren Katastrophen lauern. Die kleine Kirche ist dem Himmel ein Stück näher gerückt. Auch der Zeichner Diersch träumt den alten Traum von der Kathedrale, die den Himmel berührt und als Lichtgestalt verkörpert. Sein helles Haus in der Nacht ist von metaphysischem Lichte durchstrahlt, ganz nahe der Kathedrale, die im Angesichte des Himmels die Welt träumt. Das Nocturno steht inmitten der Blätter des Tages, in der Finsternis der Nacht funkeln die Sterne.
Frank Diersch gehört zu den Zeichnern, die im Dunklen traumwandlerisch ihr Lichtlein anzünden und seine Sonnen und Monde kreisen lässt. Alles drängt zur Herstellung des Lichtes. Die einsamen Häuser auf den Bergen, was mögen sie wohl alles an Geheimnissen bergen? Das unheimliche Laboratorium, in dem die Dinge im flackernden Licht der Lampe ihre scharfen Konturen verlieren und sich zu unfassbaren Geistern verflüchtigen? Die Küche der Alchimisten, wo im magischen Gebräu das prosaische Leben erstickt? Die Hütte mit den verschlossenen Fenstern und Türen, Brutstätte eines heimlichen Mordes, von dem nie jemand erfahren wird? Traumbilder einer verkehrten Welt, wo in der Paradoxie das unterste nach oben gekehrt ist.
Der Zeichner Diersch weiß heute mit seinen vierzig Jahren, das er im Blick auf das morgen an einer Zäsur steht, im Leben wie in seiner Kunst. Das Haus auf dem Berge ist für ihn so auch ein Gleichnis für das Erreichte wie das noch zu Gewinnende seiner Vision. Die Reduktion der Linie aus einstiger Fülle ist für ihn jetzt das äußerste Gebot. Jungfräulich sind die großen, weißen Blätter, die sich in ihrer Leere nach Erfüllung durch den Zeichenstift sehnen. Sparsame Linien, die ohne Umschweife leicht empor klettern. Wo früher die geballte Form die Erde beben ließ, entfalten sich die Motive in zarten Umrissen. Linien dienen als grazile Geländer, die schnurstracks nach oben führen, wo bauchige Krugform und bizarres Wolkengebirge ins ungewisse Nirwana gleiten. Die Pastoralen sind nur noch Spuk und vage Andeutung des Grauens. Von der Linie geht der Schritt hin zur Farbe. Im Malerischen ein tastendes Lavieren im Gerüst des Linearen.
Frank Diersch übt die alchimistische Metamorphose. Aufblühen der Farbe vom dunklen Sepia und Schwarz hin zum leuchtenden Indigo und Karmin, den schillernden Tintenfischfarben in tiefen Gewässern. In der Zeichnung, die bisher auf den rissigen Strich baute, ist das garstige Knäuel der Linien aufgelöst. Jede von ihnen beginnt nun ihr minimalistisches Eigenleben, in konzertierter Aktion mit den anderen ringsum. Locker ist das Handschriftliche mit dem Pinsel in schwarzer Tusche im kompakten Aachen-Block der Zeichnungen hingesetzt. Derlei Entspannung tut gut, nur weiter so, einfach vom Fleck weg. Das Haus auf dem Berge – Sinnbild für die Mühen des Aufstiegs und des Abstieges im Prozess des unaufhaltsamen Zeichnens, sich öffnen und wieder verschließen. Burg undHaus, Kirche und Schloss müssen so stets aufs Neue erobert und in ihrer wandelbaren Gestalt geopfert werden, um auf dieser Bahn schöpferisch weiter zu ziehen. Was allein zählt ist die Frische neuer Erfahrung, gebaut auf den alten, kryptischen Fundamenten, die tief unten wohnen. Auch für den Zeichner Diersch gilt der steinige Weg zum Berge droben, wo sich das Irdische mit dem Kosmischen berührt, letztlich mehr als das lockende Ziel. Denn, so ein japanisches Sprichwort, » der mühsame Weg / macht den Wanderer zu dem Stoff, / den er verzehrt. « Der Traum ist das >Bild< und nicht das Wort.
Dr. Roland März, Kustos, Nationalgalerie, Berlin, 2005 / Text aus dem Katalog: Frank Diersch, Zeichnungen, edition drawing room, Berlin, 2005
Der Gärtner des Lichts
Er muss heute früh aufstehen. Die ganze Nacht hat er gewartet. In der Dunkelheit. Den Kopf tief in die Hand gesenkt. Die Augen geschlossen. Hinter den Lidern die gesammelte Schwärze. Er wohnt schon lange hier. Er kann sein Alter nicht zählen. Niemand kann seine Jahre zählen. Die Menschen sagen, hier wäre das Ende der Welt. Er kann sich nicht erinnern an das Ende der Welt. Er weiß nur, dass es in ihm wohnt. Sein Wesen ist ein einzig verschütteter Palast. Die Eingänge sind zugemauert, manchmal bricht er mit der Hand einen einzelnen Stein aus der Mauer und kann in sich hineinsehen. An solchen Tagen erhält er einen Streifen Kenntnis von der Welt. Das Land um ihn herum ist schwarz. Keine Spur. Kein Hund, kein Baum, kein Kind, kein Gras. Nur ein Haus. Indem wohnt er seit er sehen kann. Jemand hat ihm ein Zeichen in die Stirn geschrieben. Demmuß er jetzt nachgehen. Er muss jetzt aufstehen. Sich aus der Dunkelheit schälen und hinausgehen. Er nimmt das stumpfe Messer von der Wand und ritzt eine Kerbe in die harte Erdkruste. Seine Hand hält das Werkzeug sicher. Mit der ganzen Kraft, die in ihm zur Verfügung steht zieht er die Linie. Eine nach der Anderen. Er muß auf der Erde knien, den Nacken gebeugt, die Zunge zwischen den Zähnen. Auf dem Handrücken treten blau die Adern hervor. Es ist eine Anstrengung , diese Kennzeichnung. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Eine riesige Brachfläche liegt noch vor ihm. Unbehauen, unbeschriftet. Unbewohnt.
Er muß den Garten anlegen. Den Garten des Lichts. Wenn er es nicht tut, vergessen die Menschen das Licht. Sie denken, es wäre eine Gabe, von der man jeden Tag ohne Dankbarkeit Gebrauch machen könnte. Sie unterschätzen die Fragilität ihrer Anwesenheit. Er spürt, das ist nur eine Frage der Zeit. Das ist nur eine Frage der Dunkelheit. Und wenn die Sonne nicht aufgeht und das wird bald sein. Gibt es hier kein Licht mehr. Er muss den Garten bestellen. Er nimmt schon lange keine irdischen Speisen mehr zu sich. Kein Brot, keine Milch, kein Fleisch. Der Tag ist zu lang, die Nacht zu kurz. Er geht in den Keller. Dort lagern die Gefäße. Bevor die Nacht verschwindet muss er sie alle nach oben tragen. Es sind alte Gefäße , aus einer versunkenen Zeit. Lichtfänger. Er stellt sie in den Garten auf die gezeichnete Erde. Sorgfältig schreitet er das Gelände ab. Es darf kein Licht verloren gehen. Er stellt die noch leeren Behälter in gleichmäßigen Abständen auf. Eine Handspanne Raum zwischen den Wänden. Er räuspert sich. Ein eintöniger Morgen. Ein noch grauer Morgen. Er hat das Sprechen verlernt. Eine menschliche Sprache fällt ihm nicht mehr zu. Sein Mund ist verschlossen. Sein Atem geht flach. Er benötigt jede Konzentration um das gleich vom Himmel stürzenden Licht zu bergen.
Er streckt die Hände nach oben. Er richtet die Stirn nach oben. Durch die geschlossenen Lider spürt er die heutige Intensität. Das Licht verfängt sich in den Behältern. Mit einer routinierten Bewegung schließt er den Deckel. Jetzt kann es nicht mehr hinaus. Er hat einen großen Vorrat angelegt für finstere Zeiten. Wenn das Licht lang genug im Keller lagert und etwa geschmeidig wird, kann er es formen. Zu Körpern, die niemals aufgeben, die nie ihr Leuchten verlieren. Heute hat er eine Menge zu tun. Es ist ein strahlender Tag. Die Sonne gleißt nur so. Keine Wolken am Himmel. Das Licht stürzt nur so herab. In seine weit geöffneten Arme. Er allein fängt es auf und trägt es wie Garben von Heu in das Haus. Er kann heute einen großen Vorrat anlegen. Das wird eine Lichternte, wie es sie seit langem nicht gab. In seinem Kopf wird es hell, die Schatten unter der Stirn verschwinden. Er ist ganz in seinem Element. Er könnte singen, wenn er ein Lied hätte. Aber die Lieder sind ihm ausgegangen. Nur ein Ton ist geblieben. Wie eine Glocke schlägt er im Schädel hin und her. Er läuft schon seit Stunden den gleichen Weg. Hin und her. Die Arme werden ihm schwer. Er kann nicht aufgeben jetzt.
Die Sonne steht hoch am Himmel. Sie schickt, was sie nur geben kann. Er droht unter der Lichtlast zu zerbrechen. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn, das Haar fällt in sein Gesicht. Er setzt sich auf die Erde. Die Hände ruhen für einen Augenblick. Er betrachtet seine Hände. Tiefe Furchen. Er liest aus seinen Händen die Zukunft. Die Welt steht darin. Er kann sie entziffern. Er kann sie deuten. Diese Gabe bereitet ihm Mühe. Sie kostet ein stetes Gewissen. Ach. Was. Weiter. Das Licht muß in den Keller. Bis zum Einbruch der Dunkelheit trägt er an der Helligkeit. Dann schließt er die Tür hinter sich. Jetzt kommt ihm die liebste Zeit des Tages. Im Zwiegespräch mit der gefangenen Beute. Seine Hände formen das Licht zu Kugeln. Große leuchtende Körper in allen Größen. Er stapelt sie sorgsam in den Regalen. Er beschriftet sie mit Datum und Intensität. Heute Nacht muss er sie austragen. Mittlerweile gibt es immer mehr Zonen von großer Finsternis. Er hat sie alle auf einer Landkarte verzeichnet. Die Karte weist alle Schattierungen von Schwärze auf. Er muss den Menschen und den Orten das Licht bringen. Sie bleiben sonst ohne Orientierung, ohne Sinn. Sie können weder sehen noch erkennen. Er faltet die Karte auf seinen Knien aus.
Mit dem Zeigefinger fährt er den Weg entlang. Ein schmaler Pfad, ein gefährlicher Weg. Er holt den hölzernen Wagen, er sattelt das schwarze Pferd. Mit den Himmelskörpern reitet er davon. Zuerst die Ränder der Städte. Diese Orte warten schon lange auf Erleuchtung. Dann die verlassenen Kapellen und Paläste. Die Kirchen und Klöster. Die Höfe hinter den Häusern. Die Korridore hinter den Türen. Die Wände und Decken der Behausungen. Die Menschen strecken ihm die Hände entgegen. Einige kleine Kugeln trägt er im Innenfutter seines Mantels. Die sind für die besonders finsteren Herzgegenden. Ein Blick in die Augen der Bedürftigen genügt ihm. Er greift direkt durch die Haut und setzt die Kugel ins Herz. Die Augen der so Beschenkten beginnen zu leuchten. Sie verneigen sich tief und schließen den Gärtner des Lichts, nur unter diesen Namen kennt man ihn hier, in sein Gebet ein. Das Gebet hat viele Strophen. So verschenkt er Nacht für Nacht seine Gaben.
In den frühen Morgenstunden legt er sich unter einen Baum schlafen. Er bindet Pferd und Wagen zusammen und legt seine Wange auf die Erde. Über ihm eine Taube. Sie spricht von einem Gleichnis, das er nicht versteht. Niemand zündet ein Licht an und bedeckt es mit einem Gefäß. Sondern er setzt es auf einen Leuchter, auf dass, wer hineingeht, das Licht sehe. Nur das spricht sie zu ihm. Er wendet die Worte noch im Halbschlaf hin und her. Unter einem hellen Himmel erwacht er. Er erhebt sich und setzt sein Tagwerk fort. Eine Ende ist nicht abzusehen. Solange es einen Tag und eine Nacht gibt, geht sein Mühen und Bergen voran. Er bleibt dem Licht verbunden.
Prof. Christina Friedrich, Regisseurin , Autorin, 2005, Text aus dem Katalog: Frank Diersch, Zeichnungen, edition drawing room, Berlin, 2005
Drei mal Plus (3x+)
Frank Diersch kommt von der Zeichnung her. Irgendwie verweigern sich die Begriffe, will man versuchen ohne eigene poetische Anstrengung zu beschreiben, was auf diesen Blättern geschieht. Jedenfalls ist da nichts, was mit Stil, Perfektion, Genauigkeit oder einer Form systematischer Erkundung von irgendwas Zeichenhaftem oder Formalem, von Fläche, Strich oder Raum zu tun hätte. Erst recht nichts mit Illustrativem. Aber auch das Gegenteil, einen „psychischen Automatismus“, wie ihn die Surrealisten behaupteten, kann man ihm nicht bescheinigen. Es ist nichts davon und doch auch alles dies: es ist ein großes Gebiet, das sich auf den recht kleinen Blättern auftut, eines das die ganze Spannbreite zeichnerischer Möglichkeiten, von Reduktion auf den seismographischen Strich und äußerster Opulenz stürmischer Linien- und Fleckengelage umfasst. Auf dem sich Themen und Motive breit machen, die biographische oder literarische Hintergründe haben mögen, zumeist aber wohl in einer bildnerischen Imagination wurzeln, die tief in die Schichten der Erfahrung herabreicht. Was mich an diesen Blättern fasziniert ist die Feststellung, dass sie nicht „gemeint“ sind. Sie sind einfach da, gleichsam naturhaft, wie wunderliche Bildungen der Phantasie, denen man in den seltenen Momenten zwischen Traum und höchst wacher Beobachtung begegnet, wenn man seiner selbst nicht gewiß ist und die schützenden Wahrnehmungsfilter abgeschaltet sind. Manchmal zieht die Zeichnung den Betrachter in einen quasi-perspektivischen Raum, der mit Erscheinungen angefüllt ist und sich alsbald auflöst, wenn man in ihn sieht. Dann wieder wölben sich die Blätter mit den gespannten Strichen nach außen, dem Blick entgegen, der sie abtastet. Das Amorphe wird anthropomorph und umgekehrt, manches mutet an, wie ein Rausch des Zum-Vorschein-Bringens, anderes als bewusste, zuweilen auch ironische Setzung in der Selbstgewissheit des Metiers. Frank Diersch hat den berlinischen Hintergrund, auf dem nichts ist zwischen Auge und Bild, nur das Gedächtnis hinter dem Auge, und auf diesem Hintergrund macht er etwas wirklich Neues und lässt zugleich dem Gedächtnis Raum.
.Matthias Flügge, Mai 2007, aus der Eröffnungsrede; Hans Brosch, Frank Diersch, Jörg Uwe Jacob in der Galerie Mitte, Berlin, 2007
* Sag dem Ziel, es soll sich bewegen!
Frank Diersch scheint aus einem anderen Jahrhundert zu kommen. Altmeisterlich zeichnend und altdeutsch schreibend lässt er in seinen Blättern die Grenzen zwischen dem Realen und dem Irrealen, dem Tatsächlichen und dem Erwarteten zerfließen. Seine Blätter sind unbestimmbar im Sinne einer bestehenden Grammatik. Stets erobert er sich auf’s Neue fremdes Terrain. Ob mit Bleistift, Bunststift, Tusche und Feder, in Liniengespinsten, lyrischem Gewöll, seelennaturverbundenem Wirrwarr- er versteht es, seinen Zeichnungen auf besondere Weise die Aura des Geheimnisvollen und Undurchsichtigen zu verleihen. Das trifft besonders auf seine kalligrafischen Verströmungen und seine Latex-Zeichnungen zu, die tatsächlich mittels handtellergroßen Latex-Klecksen Bunstiftstriche und –farbe aufsaugen. Doch es gibt einen identifizierbaren Diersch-Stil, welcher das Schauen nach vorn (in’s Ungewisse) und nach oben impliziert, die Fixierung auf den imaginären Berg des Lebens, den es zu erklimmen gilt). Nur so vermag er in Schichten seines Bewusstseins vorzudringen, die mit der Ratio allein nicht aufzuschließen sind. Um sich mitzuteilen, nonverbal. Andererseits ist er ein Zaubermeister des Wortes und sprachmächtig in seinen barocken Weissagungen. Eine echte Doppelbegabung in einem schwebenden, flüchtigen Zustand.
Christoph Tannert, aus der Rede zur Ausstellungseröffnung „* Sag dem Ziel, es soll sich bewegen! / Arno Bojak, Frank Diersch, Kata Unger“, Galerie Alte Schule Adlershof, Berlin, 27.01.2012
Magische Gestaltverwandlungen / Zu den Zeichnungen von Frank Diersch
Der Zeichner Frank Diersch begibt ich mit seinen von einer beinahe suggestiven Phantasie durchwobenen Blättern in geheime innere und äußere Welten. Sie lösen dennoch eine gewisse Vertrautheit in uns aus, weil diese skurrilen Linien- und Fleckgebilde Relikte des Realen einfangen, die wir beim „Lesen“ einer Blattgefüge nach und nach entschlüsseln. Eine wirkliche Deutung der bewegten, im Raum verspannten Szenerien aber gelingt nicht, was ganz der Intention des Künstlers entspricht. Denn Frank Diersch geht es gerade darum, mit gegenläufigen Formelementen und widerstreitenden Bedeutungsgehalten gewohnte Stimmigkeiten aufzubrechen, Bekanntes in die Distanz zu rücken und funktionale Zusammenhänge in scheinbar absurde Zuständlichkeiten zu verwandeln. Der Berliner Zeichner tritt als Fabulierer auf den Plan, der spielerisch-verfremdete Zwischenwelten anstößt, die zugleich sehr existentielle Momente streifen und dabei doch im Boden verankert bleiben. „Eigentlich rankt sich alles um Themen, die schon immer da waren“, sagte er unlängst, und bricht dessen ungeachtet in seine Bereiche des Imaginativen auf, das die Bühne freigibt für ein überraschendes, eng verkoppeltes Miteinander von Figurenwesen, Objektgebilden, Naturerscheinungen und Schriftzeichen. Gleichsam aus Träumen und Vorstellungen heraufgewachsen, entfalten diese surreal anmutenden Gestaltverwandlungen ihre ganz eigenen, fast erstarrten Lebensenergien. Wie sehr er in diese Bezirke des Untergründigen spontan eintaucht, offenbart sein Bekenntnis „Ich weiß vorher nicht, was entsteht“, und er fügt hinzu: „Will das Elysium nicht gelingen, dann wird es eine Kloake!“
Frank Diersch – 1965 in Berlin-Ost geboren – wuchs mit alten Büchern und Bildbänden auf, die er bei seiner Großmutter mit Bewunderung anschaute. So entwickelte sich sehr früh der Wunsch, Zeichner zu werden. Noch während seiner Lehre als Positivretuscheur besuchte er den Zeichenzirkel von Wulff Sailer und studierte danach von 1985 bis 1987 an der Fachschule für Werbung und Gestaltung Berlin. Dort waren es besonders der Fotograf Manfred Paul und der Maler Bodo Müller, die ihm eine gute, ganzheitliche Sicht für die Arbeit als Künstler vermittelten. Durch die Unterstützung des Berliner Malers Manfred Böttcher, der ihm zeitlebens als Mentor und Freund zur Seite stand, gelang 1989 die Aufnahme in den Verband der Bildenden Künstler der DDR, was fortan eigene Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen ermöglichte. Die Zeit als letzter Meisterschüler der Akademie der Künste zu Berlin zwischen 1993 und 1994 bei Dieter Goltzsche gaben ihm zusätzliches Rüstzeug für eine künstlerische Laufbahn, die für einen ausgesprochenen Zeichner mit meist kleinerformatigen Arbeiten durchaus mit Problemen verbunden war. Aber eine Vielzahl von Ausstellungen, wiederholte Lehraufträge und die Vergabe des Egmont Schaefer Preises für Zeichnung 1998 an ihn bezeugen die starke Resonanz, mit der das intensiv verdichtete Werk des auch als Bühnenbildner und Illustrator tätigen Frank Diersch in der Kunstwelt aufgenommen wurde.
Die Formensprache des in Woltersdorf bei Berlin lebenden Künstlers wird von zeichenhaften Setzungen geprägt. Die ausschwingende oder zur Schraffur gebündelte Linie und der punktartig ausgreifende Fleck bestimmen seine Kompositionen, bei denen sowohl der Flächenbezug als auch die Körper-Raum-Illusion bewahrt bleiben. Die Auswägung dieser beiden Komponenten verhilft seinen Gebilden zu einer ganz eigenen Verschwebung, welche seinen durchaus schwer wirkenden Bilddetails etwas Enthobenes und damit eine Art „Vergeistigung“ gibt – weitgehend reale Gegebenheiten nehmen symbolhafte Züge an. Weitere kontrapunktische Formfamilien tragen zusätzlich zur Entwicklung eines bildnerischen Spannungsfeldes bei.
In der Zeichnung Waldsepie von 2005 beispielsweise dominieren zwar die gebundenen, organisch erscheinenden Fleckgebilde, doch die offenen, hellen Partien schieben sich diesen Ballungen mit eigener Kraft entgegen. Sie wirken leicht und luftig, während das krakenartige Gebilde im Zentrum des Blattes aus der dunklen Unergründlichkeit wie eine bedrängende Erscheinung hervortritt. Solche beklemmenden Ausstrahlungen, die auch an Urs Graf, Goya oder Alfred Kubin denken lassen, begegnen uns immer wieder in den Arbeiten von Frank Diersch, erfahren aber durch die Vitalität seiner Zeichenweise zugleich eine massive Gegenströmung. So bündelt er in einem Blatt wie Ferne Welten von 1998 Leib- , Augen- und Fruchtformen zu einer wuchtig hereinbrechenden Lawine von apokalyptischer Dimension, lässt aber durch die rhythmisch kreisende Linienführung eine sinnlich erfüllte Körperlichkeit entstehen. Auch die groteske Maske vor dem Gesicht eines Mädchens in der Zeichnung Schrecken von 2004 signalisiert solche Entgegensetzungen. Eine weich fließende Lineatur und eine fast ins Schwarz getriebene Schraffur verdeutlichen die schmerzliche Polarität von Harmonie und Gewalt.
Häufig erscheinen die Arbeiten von Frank Diersch auch wie collageartig zusammengefügt, was etwa bei der Woltersdorfer Elegie von 2012 zu beobachten ist: Zarte und feste Strukturen, flächenhaft zugezogene Partien und chiffrenhafte Zeichen sowie erkennbare Figurationen und nicht deutbare Teilstücke ergeben jenes fast magische Wechselspiel, das seinen Werken generell eine ständig beschäftigende Bewegung verleiht, das Innen und Außen verschwistert und sie als große, nachwirkende Fragestellungen ins Gedächtnis drängt.
Dr. Fritz Jacobi, Kustos Nationalgalerie, Berlin a.D. / Kulturreport, Bonn 4/2013, Magische Gestaltverwandlungen, Zu den Zeichnungen von Frank Diersch
D + U = UNIVERSE
Frank Dierschs Werke bestechen durch ihren hohen grafischen Gehalt: Diersch verwendet Feder, Tinte, Pigmentmarker oder Tusche zunächst entsprechend seines zeichnerisch-grafischen Ansatzes und „schickt die Linie auf eine Reise“ (nach Paul Klee). Im jüngsten Werk des Künstlers, dem Blatt Cosmic residence (2022), wird der geometrische Bildraum aus Linien konstruiert; sein Duktus kann jedoch auch Knäuel, Schraffuren, Schichtungen und Überlagerungen hervorbringen. Die Strichführung im Werk FM (2022) kreiert einen anamorphen Linienhaufen, dessen Schichtungen und Auslassungen erst das eigentliche Bildmotiv bilden. Diersch vergleicht diesen malerischen Prozess mit dem des Schreibens und ergänzt: „Der Text [der malerisch niedergeschrieben wird] entwickelt sich jedoch erst [im Prozess des] Schreiben[s].“
Für Cosmic residence bedeutet dies die Konstruktion eines dreidimensionalen Gerüstes aus rosafarbenen Linien auf dunkelgrauem Grund, mündend in einem silbernen Quadrat. Eine orangene Linie umgibt das Blatt als Rahmen und transformiert damit die Linien im Inneren zu einer Theaterkulisse, die gleich einem Satelliten durch das All zu schweben scheint. Schwarze Marker-Kritzeleien kündigen dabei eine Präsenz an; ob diese jedoch als Botschaft im Schriftsystem außerirdischer Runen oder als Visualisierung eines audiovisuellen Reizes zu verstehen sei, bleibt offen. Das benachbarte Werk (Waldweg, 2021) setzt sich aus linearen Strichen und Kreisblasen zusammen und gleicht damit einer Science-Fiction-Grafik eines schnell beschleunigenden Raumfahrzeuges, das Streifen und Kegel von Licht hinter sich herzerrt. Doch dieses ‚Lichtabgas‘ formiert sich zum titelgebenden Waldweg. Das Komponieren eines Motives aus Blasen und Bläschen übernimmt Diersch auch für seine Arbeit Raumschiff (2019/22). Hier strömen Bläschen gleich einem sich auftürmenden Schaumbad in die Höhe; wie Kondensstreifen oder Siedeperlen kochenden Wassers drücken sich die Bläschen aneinander vorbei. Die Arbeiten Weltkarte/Map (2021) und Pictosphere (2021) scheinen auf den ersten Blick formal sehr ähnlich. Beide Werke präsentieren uns eine kartografische Oberansicht eines Lageplanes. Während die Weltkarte jedoch den Versuch unternimmt, eine fremde Welt mit ihren Hügeln und Tälern, quadratischen Seen und wulstigen Flüssen zu kartografieren, funktioniert die Arbeit Pictosphere als ein mit Kommentaren versehenes „Modell einer Bildumgebung […] außerhalb der gängigen Wahrnehmungsmuster“ (werkinterne Beschriftung). Als ‚astrophilosophische Schaukarte‘ verortet sie Dinge wie „Objekt, Optik, Physik“ und das „Fenster des Möglichen“ nebeneinander, als wären es Nachbargebäude auf einem Grundstück.
Der hintere Raum beschäftigt sich mit dem ‚Metamorphosen des Lichts‘. Die dortigen Werke FM (2022) und Nr. 498 (universe) (2022) zeigen extraterrestrische fremde Zeichen, verarbeiten zeitgleich jedoch auch die teils jahrelange Wanderung von Photonen (Lichtpartikeln) durch das schwarze Nichts. Dieses kosmologische Phänomen beschäftigt den Künstler, denn er versucht „das Licht in seiner feinsten, nobelsten Ausprägung [abzubilden], kurz vor dem Noch-Nichtvorhandensein“ (Zitat Diersch). Diese galaktische Phänomenologie ergänzt er im Werk Fast Radio Burst (FRB) (2022) um eine weitere Sinneswahrnehmung: den Ton. Erst vor zwanzig Jahren wurden Radioblitze als Radiowellen aus dem All entdeckt. 2020 zeichnete man erste Audiosignale auch von außerhalb unserer Galaxie auf. Diersch, der auch als Tonkünstler tätig ist, bearbeitet entsprechend nicht das erste Mal die visuelle Darstellung von Audiosignalen. Fast Radio Burst (BFR) bebildert eine „Echokammer der frühsten Signale im Universum“ (Zitat Diersch). Mit der Arbeit visualisiert der Künstler, durch aufwendig über das Blatt wandernde Linienschichtungen, wie das Universum klingen mag.
Mark Kuhrke, Auszug aus der Rede zur Eröffnung der Ausstellung UNIVERSE, 2022, Kata Unger und Frank Diersch, im Kunstverein Feuerwehrhaus Kemlitz e.V.